Menschen: Geschichten und Erfahrungen

Ich bin mir der Auswirkungen einer Veröffentlichung von persönlichen Erfahrungen, Geschichten und Details, die teilweise der Privatsphäre zuzuordnen sind, bewusst. Die Privatsphäre verliert jedoch an Bedeutung, wenn man das Leid der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, miterlebt. Wer kann behinderten Menschen besser helfen, als ein Mensch, dessen Geschichte von Behinderungen geprägt ist. Zumal ich neben meiner Geschichte auf die Erfahrungen und Erlebnisse meines behinderten Sohnes und meines behinderten Bruders zurück greifen kann, um von diesen Behinderungen betroffenen Menschen und deren Familienangehörigen mit diesem Wegweiser zu helfen.

Trotz negativer und leidvoller Erfahrungen habe ich den Glauben an das Gute im Menschen nie verloren, weshalb ich die persönlichen Informationen auf dieser Website ruhigen Gewissens veröffentliche. Wer die Gabe besitzt, die Menschen ohne jegliche Vorurteile zu lieben, der scheut sich nicht davor, die eigene Geschichte sowie ganz persönliche Erfahrungen mit Hilfesuchenden und Hilfsbedürftigen zu teilen.

Meine persönlichen Erfahrungen

Meine Geschichte beginnt im Jahr 1970, als ich mit beidseitigen Klumpfüßen auf die Welt gekommen bin. Wie damals üblich wurden meine Füße operiert. An diese Operation wie auch an alle im Baby- und Kleinkindalter folgenden weiteren Operationen und Behandlungen kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern. Die ersten Erinnerungen stammen aus dem Jahr 1980 als ich 10 Jahre alt war. Ich wurde damals wieder beidseitig operiert, weil sich, so vermute ich zumindest, beide Füße in die falsche Richtung entwickelten. Mein Krankenhausaufenthalt im St. Josef-Stift Sendenhorst dauerte ca. drei Monate und ich war überglücklich, als ich endlich wieder nach Hause durfte. Was noch lange nicht hieß, dass ich wieder zur Schule gehen konnte. Der von meinem Gesundheitszustand abhängige und deshalb lückenhafte Unterricht im Krankenhaus beinhaltete bei weitem nicht den Lehrstoff der vierten Klasse - er war damit in keinster Weise zu vergleichen. Die Ausfallzeit nach dem Krankenhausaufenthalt eingerechnet, habe ich die vierte Klasse so gut wie nicht besucht. Ein nahezu verlorenes Schuljahr mit wesentlichen Lerninhalten, welche für die weiterführende Schule von großer Bedeutung waren. Die Frage nach dem Besuch einer höheren Schule, ob Realschule oder Gymnasium, stellte sich erst gar nicht. Wieso ich überhaupt versetzt wurde, ist mir heute ein Rätsel. Es war die Zeit, als ich das „verlorene Schuljahr“ zu spüren bekam. Die Zeit, als ich nicht oder nur eingeschränkt am geliebten Sportunterricht teilnehmen konnte. Trotzdem schaffte ich es, ohne ein Jahr wiederholen zu müssen, bis in die zehnte Klasse der Hauptschule. Mit dem Ziel, diese mit der Fachoberschulreife abzuschließen. Kurz nach dem ersten Schultag in der zehnten Klasse bereitete mir jedoch mein rechter Fuß große Schmerzen. Ich konnte ihn nicht mehr abrollen. Zudem hatte ich mit stark ausgeprägten X-Beinen zu kämpfen. Noch bevor wir den Hausarzt und später das Krankenhaus aufsuchten, war mir klar, was auf mich zukommen würde. Anfang August 1986 begann die stationäre Behandlung im Universitätsklinikum Münster, dem herausragenden Gebäude mit den zwei riesigen Türmen, wo ich einer Operation am rechten Fuß und an den Knien unterzogen wurde. Eine schmerzliche Erfahrung werde ich niemals vergessen - als man mich nach der stundenlangen Operation aufweckte, um mir zu sagen, dass ich erneut in den Operationssaal muss, weil sich die Schraube in meinem Fuß gelockert hatte. Nach eineinhalb Monaten wurde ich dann mit einem Gipsbein entlassen. Der Gips sollte über vier Monate mein rechtes Bein zieren. Und wieder in einer sehr wichtigen Phase die Schule verpasst. Ach ja, dann war da noch die Schraube, die später wieder operativ entfernt werden musste. Mit viel Mühe habe ich die Hauptschule dann doch mit der Fachoberschulreife abgeschlossen, womit der Weg zum Gymnasium frei war. Schlussendlich bin ich dort an die Grenzen gestoßen, die mir meine Vergangenheit gesetzt hatte. Nach zwei Jahren habe ich das Gymnasium dann ohne Abschluss verlassen, um den kaufmännischen Weg einzuschlagen, der mir zur Entlastung meiner Füße eine sitzende Position ermöglichte. Soviel erstmal zu meiner Geschichte, wenngleich meine Klumpfüße in den darauf folgenden 17 Jahren - bis zur Geburt meines Sohnes - nicht immer so funktioniert haben, wie ich mir das gerne gewünscht hätte.

Die Geschichte meines Sohnes

Ich war mittlerweile seit zwölf Jahren glücklich verheiratet und wir haben meinen 34. Geburtstag gefeiert. Mein schönster Geburtstag bis dahin, weil meine Frau mit unserem ersten Kind - einem kleinen Prinzen - schwanger war. Keine vier Wochen später - Anfang Juli 2004 - stand die nächste Ultraschall-Untersuchung an, die unsere Freude trüben sollte. Der Verdacht: Klumpfüße beidseitig, der sich in einer Folgeuntersuchung in der Gemeinschaftspraxis für Praenatal Medizin bestätigte. Hier wiederum hatten wir Glück im Unglück, da keine weiteren Behinderungen festgestellt wurden. Balsam für unsere damals angeschlagenen Seelen. Trotzdem haben mich die Klumpfüße besonders schwer getroffen, weil mich meine persönliche Vergangenheit einzuholen schien. Aber was sind schon Klumpfüße im Vergleich zu den vielen schlimmen und unheilbaren Behinderungen bzw. was ist meine Vergangenheit im Vergleich zur Vergangenheit und Geschichte vieler Menschen, deren Leidensgeschichten meine in den Schatten stellen? So haben auch wir den ersten Schock überwunden und unsere Freude stand wieder im Vordergrund. Mein Sohn sollte es besser haben, weshalb wir uns im Vorfeld informierten. Eine meiner Schwestern, die im St. Franziskus Hospital in Münster beschäftigt war, hat uns Dr. Semmelmann, den dortigen Klumpfuß-Spezialisten empfohlen, der auf eine langjährige Erfahrung zurückblicken kann und in unserer Gegend einen sehr guten Ruf besitzt. Die Ortsnähe, der persönliche Kontakt meiner Schwester zu Dr. Semmelmann und einige andere Punkte mehr haben für eine Entbindung im St. Franziskus Hospital gesprochen, auch weil sich den Informationen im Internet nach die Ponseti-Methode in Deutschland noch nicht so durchgesetzt hatte, wie es heute der Fall ist. So wurde mein Sohn im St. Franziskus Hospital in Münster geboren und kurz nach der Geburt mit Gipsen behandelt. Wir hatten uns schweren Herzens für eine Operation entschieden, weil wir bei Dr. Semmelmann in sicheren Händen waren. Zumal auch sein linker Fuß ein schwieriger Fall zu werden drohte und die zwei zusammen gewachsenen Zehen (an beiden Füßen) unerwartet hinzu kamen. Das Anfangs sehr gute Gefühl verschwand jedoch mit zunehmender Behandlungsdauer, weil mein Sohn immer öfter von unterschiedlichen Assistenzärzten und Neulingen behandelt wurde. Notfälle, in die Dr. Semmelmann eingebunden war, gingen verständlicher Weise vor. Selbstverständlich müssen auch Neulinge ihre Erfahrungen sammeln, um einmal so gut zu werden, wie es beispielsweise Dr. Semmelmann ist, aber wir wollten die bevorstehende Operation weder dem Glück noch dem Zufall überlassen. Was ist, wenn zum Zeitpunkt der Operation wieder ein Notfall dazwischen kommt? Wir beschlossen, die Behandlung sofort abzubrechen. Die Erfahrungen der vergangenen 8 Wochen sowie dieser Artikel über Dehnungen und Gips-Behandlungen, die Kindern mit Klumpfuß Operationen ersparen, brachte uns von einer Operation ab und führte dann doch zur Ponseti-Methode. Ein äußerst herzliches Telefonat mit Dr. Reize, damals Oberarzt im Universitätsklinikum Tübingen - Klinik für Orthopädie, bekräftigte unsere Entscheidung. Wir nahmen Woche für Woche die ca. 1200 km (Hin- und Rückweg) auf uns, weil uns unter anderem eine außergewöhnliche menschliche Wärme entgegen gebracht wurde. Wir waren aus unserer Sicht bei genau dem richtigen Arzt gelandet und wir sollten unsere Entscheidung zu keinem Zeitpunkt bereuen. Nur traurig, dass wir nicht sofort nach der Geburt diesen Weg gegangen sind. Aber wären wir dann bei diesem Arzt gelandet? Wie gut waren zu der Zeit die in Deutschland praktizierenden Ärzte in Bezug auf Ponseti? Hätten sie bei dem extrem betroffenen linken Fuß diese Behandlungsmethode überhaupt vorgeschlagen? Wir mussten die Situation so hinnehmen und mit den Fehlern, wenn es denn welche waren, leben. Seine Zukunft hing doch viel mehr von Glück und Zufall ab, als wir dachten. Die Gips-Behandlung im Universitätsklinikum Tübingen dauerte 8 Wochen, inklusive der dreiwöchigen Gips-Fixierung nach der beidseitigen Achillessehnen-Operation (Percutane Achillotenotomie), die im März 2005 durchgeführt wurde. Es folgte die Fuß-Abduktions-Orthese (Denis-Browne-Schiene mit Schuhen), die er für 3 Monate Tag und Nacht getragen hat - danach nur noch Nachts. Unser Orthopäde vor Ort hat dann im weiteren Verlauf Sichelfuß-Orthesen verschrieben, weil mein Sohn die Denis-Browne-Schiene nicht mehr akzeptiert hat. Soviel zur Ponseti-Methode, die wir deshalb leider nicht weiter verfolgen konnten. Die Sichelfuß-Orthesen hat er dann glücklicher Weise angenommen. Diese Vorgehensweise ging bis zum Alter von viereinhalb Jahren gut. In Verbindung mit Anti-Varus-Schuhen haben wir ein akzeptables Ergebnis erzielt. Optimal ist etwas anderes, aber in Anbetracht der Schwierigkeiten waren wir zufrieden. Die passive Behandlung bestand im weiteren Verlauf aus Drei-Backen-Einlagen, die er in normalen Schuhen getragen hat. Ansonsten haben wir versucht, mit Krankengymnastik und Physiotherapie sein Gleichgewicht und seine Standfestigkeit zu schulen. Leider mussten wir Ende November 2009 einer weiteren Gips-Behandlung nach Ponseti zustimmen, weil wir größere Operationen und Eingriffe auf jeden Fall vermeiden wollten. So hat uns die Ponseti-Methode erstmal wieder. Die nächsten Kontrolltermine und Gips-Behandlungen werden unseren Weg bestimmen. Über den aktuellen Stand werde ich von Zeit zu Zeit in meinem Blog, Tagebuch berichten.